15.11.2015
Staubbraun ist die vorherrschende Farbe dieser Tage auf dem Weg nach Lima durch die Wüste bis in den Slum ausserhalb der Millionenstadt. Doch es gibt leuchtende Farbflecken - man muss nur genau hinschauen.
Von Trujillo aus führt unsere Strasse ins vermeintliche Nichts. Endlos zieht sich die Wüste dahin, es ist still. In einem Dorf neben einer Tankstelle sehen wir auf einmal zwei grosse Motorräder. Eines davon gehört einer Schweizerin, die wir vom Boot kennen. Im Schnelldurchlauf lasen wir die letzten Wochen Revue passieren, bevor wir in verschiedene Richtungen davonfahren. Sie gibt uns den Tipp mit, am Kilometer 374 anzuhalten. Gegen Mittag erreichen wir diese magische Zahl mitten in der Wüste, hinter der sich eine schöne Begegnung verbirgt. Seit 25 Jahren empfängt Don Clemente hier Reisende aller Art. Ob mit dem Motorrad, dem Fahrrad, oder gar zu Fuss - Weltreisende werden hier mit einem feinen Essen und nötigenfalls mit Übernachtung verwöhnt. Mehrere dicke Bücher sind mit Grüssen und Danksagungen gefüllt, Don Clementes Name ist somit weltbekannt! Gestärkt mit einem feinen Essen, für das Don Clemente partout keine Bezahlung akzeptieren will, fahren wir weiter. Abends wartet in dieser unendlichen Stille ein schönes Plätzchen für unser Zelt. In den letzten Sonnenstrahlen erklettern wir ein paar Sanddünen und verziehen uns dann. Wie noch nie wird diese Nacht unser Zelt auf Probe gestellt: Der Wind rüttelt und schüttelt, wir fürchten um die Stabilität des Gestänges, doch alles geht gut und in den Morgenstunden lässt der Wind nach.
Wir können uns nicht vorstellen, dass in dieser Einöde irgend eine Art von Lebewesen existiert, doch der Morgen belehrt uns eines besseren, als eine kleine Maus aus Josephines Motorradhose herausspringt! Auch sie hat wohl vor dem Wind Zuflucht gesucht - oder Spuren unserer letzten Zwischenverpflegung gefunden...
Nun gilt es ernst, Lima kommt in Reichweite. Landschaftlich ändert sich nicht viel, ausser dass nun mehr und mehr Hütten und Häuser auftauchen. Erstmals wird uns so richtig bewusst, dass Lima tatsächlich auch mitten in der Wüste liegt. Kilometer um Kilometer fahren wir an ärmlichen Siedlungen vorbei und arbeiten und ins Zentrum vor. Wir haben das Glück, hier bei einer Kollegin unterzukommen, die seit kurzem ihren Lebensstandort hierhin gewechselt hat. Es ist ein fröhliches Wiedersehen, wenn auch erstmal nur ein kurzes. Denn am Tag darauf machen wir uns auf zu dem, warum wir eigentlich in Lima sind: Wir fahren in den Slum von Huaycan, etwas ausserhalb von Lima. Hier unterstützt Josephines ehemaliger Arbeitgeber, die Entwicklungs- und Nothilfeorganisation TearFund ein Projekt, das von einer lokalen Partnerorganisation umgesetzt wird. Bereits vor 3 Jahren haben wir dieses Projekt besucht und das Wiedersehen fällt auch hier sehr herzlich aus. Wir wohnen sogar bei der gleichen Gastfamilie wie vor 3 Jahren und freuen uns, diesmal über weit bessere Spanischkenntnisse zu verfügen als damals und so diesmal die Beziehung besser pflegen zu können.
Die nächsten Tage werden sehr intensiv. Wir sind hier, um Interviews mit den begünstigten Familien der Projekte zu führen, Fotos zu machen und ihr Leben und ihren Alltag zu dokumentieren. Daneben besuchen wir diverse Programme, die vor allem auf sportliche und kulturelle Aktivitäten ausgerichtet sind. Die Geschichten der Familien gehen tief. Die meisten sind irgendwann aus dem Hochland Richtung Lima gezogen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Hier in diesem staubigen Talkessel ohne Ausgang anzukommen, muss enorm schmerzhaft sein. Zu wissen, dass durch die Hände, die einst fruchtbare Erde gepflügt und bearbeitet haben, nun nur noch Sand und Staub rieseln. Zu realisieren, dass die eigenen Kinder nie bei der Ernte von frischem Gemüse und der Geburt eines Lammes dabeisein werden. Das Rauschen des Baches und der Bäume zu vermissen. Sich eingestehen zu müssen, dass das „bessere Leben“ noch auf sich warten lässt und vielleicht nie kommen wird. Verzweiflung, die mit der Zeit der Resignation und schliesslich der Hoffnungslosigkeit Platz macht. Die Kinderprogramme helfen, wenigstens etwas Farbe ins Braun zu bringen. Spass, Bewegung und neue soziale Kontakte begeistern die Kinder, ob beim Fussball, Unihockey, Volleyball, in der Theatergruppe oder bei den traditionellen Tänzen. Ihr Lachen lässt unsere Herzen aufgehen, die beim Anblick des Slums allzu oft sehr schwer werden.
Familienbiografien hier sind oft geprägt von Gewalt, ausgelöst durch die Enge in den kleinen Behausungen, durch finanzielle Unsicherheiten und fehlenden Vorbildern. Von der lokalen Organisation werden Elternschulungen durchgeführt, in denen über Erziehungsfragen und die eigene Biografie der Eltern gesprochen werden. „Viel zu lange habe ich meine Kinder so behandelt, wie auch ich früher behandelt wurde“, erzählt uns ein Vater. Und eine Mutter, die uns ihre lange, von viel zu vielen Tiefschlägen geprägte Geschichte erzählt, verrät uns mit Tränen in den Augen, wie gerne sie mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen würde - doch die finanzielle Lage lässt es schlicht nicht zu. Als uns am Ende des Interviews dieselbe Frau überschwänglich für unseren Besuch dankt und uns die besten Segnungen und Wünsche für unser Leben, unser Reisen und unsere Gesundheit mitgibt, ist es auch kurzzeitig um unsere Fassung geschehen. Wieder einmal schaffen es die Menschen, die nichts haben, uns mehr zu geben als sie jemals erfassen könnten.
Tief bewegt und voller Gesichter und Geschichten, die wir nicht vergessen werden, fahren wir nach 3 Tagen zurück nach Lima. Hier dürfen wir nochmals ein paar Tage bei unserer Kollegin Mechthild verbringen und dort all das Erlebte aufschreiben und unsere nächsten Schritte vorbereiten. Spannende Gespräche über Kulturverständnis und das Zurechtkommen in fremden Ländern bereichern diese Tage.
Als nächstes geht‘s ins Hochland, wo wir ein weiteres Projekt von TearFund besuchen werden.
Dust brown is the predominant color these days on the way to Lima through the desert to the slum outside the metropolis. But there are bright, colorful spots - you just have to look carefully.
From Trujillo our road leads into the vast emptiness. The desert goes on endlessly, it's quiet. In a village next to a gas station, we suddenly see two large motorbikes. One of them belongs to a Swiss woman whom we know from the boat. A happy chatter, a quick exchange of stories and we all drive on again, in different directions. Before parting, our friend gives us the tip to stop at kilometer 374. Around noon we reach this magical number in the middle of the desert, behind which a beautiful encounter is hidden. Don Clemente has been welcoming travelers of all kinds here for 25 years. Whether by motorbike, bicycle or even on foot - world travelers are pampered here with a delicious meal and, if necessary, with an overnight stay. Several thick books are filled with greetings and thanks, Don Clemente's name is world-famous! Strengthened with a good meal, for which Don Clemente refuses to accept payment, we drive on. In the evening, we find a nice spot for our tent in this infinite silence. In the last rays of the sun we climb a couple of sand dunes and then cuddle up in our tent. This night our tent is put to the test like never before: The wind shakes and shakes, we fear the stability of the frame, but everything goes well and in the morning the wind subsides.
We cannot imagine that there is any kind of living being in this wasteland, but the next morning proves us wrong: a little mouse jumps out of Josephine's motorcycle pants! It too has probably sought refuge from the wind - or found traces of our last snack ...
Now it's getting serious, Lima is within reach. The landscape doesn't change much, except that more and more huts and houses are appearing. For the first time we truly realize that Lima is actually located in the middle of the desert. Kilometer after kilometer we drive past poor settlements and make our way towards the center. We are fortunate to be staying with a colleague who recently moved here. It's a happy reunion, if only a short one at first. Because the next day we set out to Huaycan, the reason why we are actually in Lima: We drive to the slum of Huaycan, a little outside of Lima. Here, Josephine's former employer, the development and emergency aid organization TearFund, supports a project that is being implemented by a local partner organization. We visited this project 3 years ago and the reunion is a very warm one. We even live with the same host family as we did 3 years ago and are pleased that this time we have much better knowledge of Spanish than we did then and so this time we can maintain the relationship better.
The next few days are very intense. We are here to conduct interviews with the beneficiary families of the projects, to take photos and to document their lives and everyday activities. In addition, we attend various programs that are primarily geared towards sporting and cultural activities. The families' stories move us deeply. Most of them moved to Lima from the highlands at some point with the hope of a better life. To arrive here in this dusty valley with no way out must be extremely painful. To know that through the hands that once plowed and worked fertile earth, now only sand and dust trickle. Realizing that your own children will never be there to harvest fresh vegetables or to see a sheep give birth to a lamb. To miss the sound of the brook and the trees. To have to admit that the “better life” is still a long time coming and maybe never will. Despair, which over time gives way to resignation and finally to hopelessness. The children's programs help to bring at least some color to the brown. Fun, exercise and new social contacts inspire the children, whether in football, floorball, volleyball, in a theater group or in traditional dances. Their laughter open our hearts, which all too often become very heavy at the sights in the slum.
Family biographies here are often shaped by violence, triggered by the crampedness in the small dwellings, financial insecurities and missing role models. Parent training courses are held by the local organization, in which parenting issues and the parents' own biography are discussed. “For far too long I have treated my children the way I was treated when I was young,” a father tells us. And a mother, who tells us her long story, marked by far too many blows, tells us with tears in her eyes how much she would like to spend more time with her children - but the financial situation simply does not allow it. When, at the end of the interview, the same woman thanks us profusely for our visit and gives us the best blessings and wishes for our lives, our travels and our health, we too lose our composure for a moment. Once again, the people who have nothing manage to give us more than they could ever grasp.
Deeply moved and full of memories and stories that we will not forget, we drive back to Lima after 3 days. Here we can spend a few more days with our colleague Mechthild and write down everything we have experienced and prepare for our next steps. Exciting conversations about understanding culture and getting by in foreign countries enrich these days.
Next up is the highlands, where we will visit another TearFund project.